Duitse evacués in Vught 1944/1945
Wenn Engelbert erzählen könnte
Erinnerungen an die Zwangsevakuierung der Kalterherberger Bevölkerung
Bernd Läufer, Lammersdorf
Wenn Engelbert nur erzählen könnte, was er zwischen dem 8. Oktober 1944 und dem 23. Mai 1945 in dem ehemaligen Zollhaus am unteren Ende des Messeweges in Kalterherberg erlebt hat, er hätte mit sicherheit einiges zu berichten. Vom verzweifelten Suchen nach den Dingen, die auf die Reise ins Ungewisse mitgehen sollten, vom überstürtzten Abschied, von der menschenleeren Wohnung, von den amerikanischen Soldaten, die in den Räumen hausten und von denen, die schon im März 1945 aus der Zwangsevakuiering zurückgekehrt waren und die verwaisten Räume durchstreiften auf der Suche nach Brauchbarem. Doch Engelbert ist nur eine Puppe aus Zelluloid. Er blickt regungslos in die Welt, sein Mund öffnet sich nicht.
Engelbert ist so gross wie ein Baby. Seinen Kopf mit dem ordentlich gescheitelten Haar und seine Hände hat das Tageslicht im Laufe der Jahre gebleicht. Nur dort, wo die Kleider den Körper überdeckten, hat er seine frische, rosa Hautfarbe behalten.
Wie werden sich Frieda und Walburga gefreut haben, als Weihnachten zwei grosse Puppen unter dem Weihnachtsbaum lagen. Meine Mutter bekam den Engelbert, Walburgia die Rosemarie. Es waren schöne Puppen, mit glänzenden Augen aus Glas und beweglichen Armen und Beinen.
Als Christina Els mit ihren drei Töchtern Frieda, Walburga und Renate, neun, sieben und drei Jahre alt, am 8.Oktober 1944 Kalterherberg Hals über Kopf verlassen musste, konnte sie wie alle anderen nur das Nötigste mitnehmen. Nicht mal einen Tag hatte meinen Grossmutter Zeit, das 'Handgepäck' zusammenzusuchen. Am Tag der Abreise nahm sie den schweren Koffer. Frieda und Walburga hängten sich ihre voll gepackten Schulranzen auf den Rücken. Dann gingen sie aus dem Haus. Engelbert und Rosemarie blieben zurück.
Wie oft mögen die beiden Mädchen wohl zwischen all den beängstigenden Eindrücken auf ihrer Odyssee über Malmedy, Lüttich, Brüssel und Vught bei 's-Hertogenbosch an ihre Puppen gedacht haben?
Als die vier am 28.Mai 1945 wieder in Kalterherberg ankamen, standen sie plötzlich vor dem Nichts. Das Haus gab es zwar noch, doch drinnen war nichts mehr so, wie sie es verlassen hatten. Die Türen und Fenster waren ausgebaut, die Einrichtung vollständig weggeschafft. Nur ein Paar 'Amibänke' standen herum. Hinter dem Schuppen verstreut lag ein Teil der Wäsche und der Kleidung, daneben der Kadaver einer Kuh. Von meinem Grossvater Josef, der als Soldat in Frankreich war, gab es kein Lebenszeichen. Er kehrte erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft bei Lorient in der Bretagne zurück.
Nicht nur für meine Grossmutter, auch für die Kinder wird die Heimkehr ein Schock gewesen sein. Von den wenigen Spielsachen, die sie besessen hatten, war nichts mehr übrig. Erst nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass Engelbert in der Nachbarschaft eine neue Bleibe gefunden hatte. Es kostete recht viel Mühe, bis Frieda ihn wieder in ihre Arme schliessen konnte. Die Zehen am linken Fuss waren zerschlagen, der Kopf hatte einen Riss. Doch das alles war ohne Bedeutung. Walburga dagegen hat ihre Rosemarie mit den hübschen Lökchen nie wiedergesehen.
Mit der Zeit erhielt Engelbert neue Kleider. Das Strampelhöschen, das er nun anhat. stammt von mir. Er trägt es jetzt schon seit 44 Jahren.
Inzwischen ist die Puppe über 60 Jahre alt. Das Schicksal, das heute den meisten Spielsachen widerfährt, dass sie nämlich irgendwann verschenkt. verkauft oder einfach weggeschmissen werden, ist im erspart geblieben. Zu sehr war Engelbert meiner Mutter ans Herz gewachsen. Schliesslich war er für sie weit mehr als nur ein Spielzeug. Er war für sie ein Stück ihrer Kindheit, eine Erinnerung an die Zeit des Krieges, die für sie, wie für zahllose andere Kinder, prägend gewesen ist.
Bron: Das Monschauer Land Jahrbuch 2005 blz. 155/156.