Duitse evacués in Vught 1944/1945


Odyssee (1)

  

Die Zwangsevakuierung der Kalterherberger Zivilbevölkerung durch die amerikanische Armee am 8. Oktober 1944

Die Odyssee von 230 Kalterherbergern quer durch Belgien nach Vught in Holland.

Von Hubert Peters

 

Die Begriffe Flucht, Vertreibungoder Evakuierung waren uns nur im Zusammenhang mit den ausgebombten Flüchtlingen der großen deutschen Städte bekannt, die in unserer ländlichen Region Schutz vor dem allnächtlichen Inferno suchten. 

Nachdem aber dann etwa ab Mitte August 1944 die deutschen Truppen, ungeordnet und in immer zahlreicheren Gruppen, teilweise sogar in völliger Auflösung, Richtung Westwall durch unser Dorf zogen und die Front bedrohlich näher rückte, wurden voller Heimlichkeit geäußerte Vorahnungen plötzliche Wirklichkeit. 

Wenn der Westwall seinen Zweck, für den er erbaut worden war, erfüllen sollte, waren insgeheim bekundete Befürchtungen, dass unser Dorf ins Kriegsgeschehen einbezogen, vielleicht sogar zum Kriegs - schauplatz werden würde, nicht mehr zu überhören. 

Eine Zeitzeugin schrieb in ihr Tagebuch: "Der Krieg mit seinen Schrecken schwebt  über unseren Häuptern. Voller Angst und Bangen erwarten wir die kommenden Tage". 

Die Front rückte bedrohlich näher und schließlich erließ die Kreisleitung den allgemeinen Räumungsbefehl. Obwohl diesem Räumungsbefehl eine Anordnung des Oberkommandos der Wehrmacht zugrunde lag, und er am 11. September an Gauleiter Grohé weitergeleitet wurde, zeigte die Realität, dass die Parteidienststellen in ihren Vorstellungen und Beschlüssen bereits weit von den tatsächlichen Gegebenheiten entfernt waren. Ihre Befehle kamen völlig überhastet, viel zu spät und ohne jegliche Klarheit erkennen zu lassen, bei der Bevölkerung an. Dieses sprichwörtliche Chaos sowie die schnell heranrückenden alliierten Streitkräfte führten letztendlich dazu, dass, von einigen Ausnahmen abgesehen, die gesamte Zivilbevölkerung im Dorf geblieben ist. 

Nachdem dann Kalterherberg am 14. September 1944 ohne nennenswerte Kampfhandlungen vom VII. US-Corps eingenommen worden war, verlief das dörfliche Leben während der nächsten Woche zunächst noch in "relativ" normalen Bahnen. Wir arbeiteten trotz vereinzeltem Artilleriebeschuss auf den Feldern und versuchten, die Ernte einzubringen. 

Der deutsche Artilleriebeschuss nahm jedoch nach einigen Tagen an Intensität und Genauigkeit so sehr zu, dass wir die Erntearbeit einstellen mussten und uns überwiegend nur noch in Kellern oder selbst gebauten Unterständen aufhalten konnten. 

Diese doch schon spürbare Einschränkung wurde einige Tage später noch um eine totale Ausgangssperre für die Zeit von 17- 9 Uhr erweitert. Bei Anbruch der Dunkelheit verlegten die Amerikaner auf den Zufahrtsstraßenpanzerbrechende Minen, die sie jedoch bei Tagesanbruch wieder einsammelten. Die Dorfjugend, besonders wir jungen Burschen, bestaunten heimlich und aus der Entfernung ihre Ausrüstung, die wir in einer solchen Perfektion und Fülle bei der zurückflutenden deutschen Armee vemisst hatten. 

Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die Amerikaner, im Besonderen aber die farbigen Soldaten, freundlich waren und in freizügiger Weise Schokolade und Kekse an kleine Mädchen und Buben verteilten; und so konnte man hauptsächlich Kleinkinder beobachten, wie sie ungeniert um die Jeeps herumstanden und sehnsüchtig auf die begehrten Süßigkeiten warteten, sie aber auch manchmal eingeschüchtert und verjagt wurden. 

 Am Samstag, dem 7. Oktober, verbreitete sich wie ein Lauffeuer, zunächst zwar noch als Gerücht, die Schreckensnachricht, dass die Bevölkerung des Ortes evakuiert werden sollte. Es wurde dann kurze Zeit später durch die "Dorfschelle" (zie foto) bestätigt und zur traurigen Gewissheit erklärt. Mit knappen klaren Anweisungen wurden wir aufgefordert, am morgigen Sonntag, um 11.30 Uhr, mit Handgepäck an der Kirche zu erscheinen. Dabei kursierte wiederum ein Gerücht, dass wir zu Fuß und unter Bewachung nach Sourbrodt gebracht werden sollten. Nachfragen jeglicher Art, wie z.B. über die Dauer der Evakuierung, konnten oder wollten von der Zivilverwaltung nicht beantwortet werden. 

Wenn auch die Hoffnung auf baldige Rückkehr sehnlichster Wunsch der älteren Menschen war, so spürten sie doch, dass eine Schicksalsstunde geschlagen hatte. Die Angst und die bange Frage nach einer ungewissen Zukunft steckte ihnen wie ein Kloß im Hals. Wir Jüngeren dagegen hatten den Ernst der Lage noch nicht erfasst, waren neugierig und blieben bei guter Laune. 

Nun war es allerdings unumgänglich, die zurückgelassenen ca. 1.350 Milchkühe, ungefähr 50 Pferde, sowie ca. 300 Schweine und sonstiges Kleinvieh zu versorgen. Zunächst bestimmte man dazu auch 40 Männer reiferen Alters als Viehpfleger. Einige Tage später wurden auch sie nach Mahlmedy in die Kaserne gebracht. Wie sie erzählten, hätten sie unter Bewachung die Tiere nach Mützenich treiben müssen, was ihnen allerdings nur unvollständig gelungen wäre. 

Zurück betrachtet und aufgrund des tatsächlichen Frontverlaufes, stellt sich mir allerdings die Frage nach der Zweckmäßigkeit dieser totalen Evakuierung. Wie aus einigen Kriegstagebüchern zu entnehmen ist, leiteten die Amerikaner, um einer Beschießungsgefahr durch Heckenschützen oder eventueller Spionagetätigkeit vorzubeugen, diese Maßnahme in die Wege. 

Die Wahrscheinlichkeit aber, dass einige ihrer Truppenkommandeure die verbliebene Zivilbevölkerung als lästiges Anhängsel betrachteten, ist zwar nicht belegt, könnte ebenfalls einer der Gründe dieser rigorosen Entscheidung gewesen sein, die allenfalls dazu geeignet schien, ihren Soldaten bessere und von deutschen Zivilisten befreite Unterkünfte zu verschaffen. 

In einer Nichtverbrüderungsanweisung des alliierten Oberkommandos heißt es, bezüglich des Umgangs ihrer Truppen mit der deutschen Zivilbevölkerung: "...dass ihr Personal hart, aber gerecht, jedoch keinesfalls freundliche Zuneigung zeigen sollte. Niemals sollten alliierte Truppen mit den Deutschen unter einem Dach wohnen". 

Die Erfahrung schien diese Anweisung zunächst auch zu bestätigen, denn so, wie die beiden Verfasser der Dokumentation: "Hölle im Hürtgenwald", Adolf Hohenstein und Wolfgang Trees, auf Seite 75 berichten, vermieden die Amerikaner es, während der ersten Tage ihrer Anwesenheit auffallend ängstlich, die Häuser in Kalterherberg als Unterkünfte zu benutzen. Wir wunderten uns allemal, wie sie ausschließlich im Schutz der Wälder und hohen Buchenhecken in ihren Zelten kampierten. 

Die Wahrscheinlichkeit aber, dass, vor dem Sturm auf den Westwall, zwar auch humanitäre Gesichtspunkte bei der Evakuierung in Erwägung gezogen wurden, die Amerikaner jedoch aus kriegstechnischen Überlegungen in erster Linie ihre Kräfte sammeln sowie für ausreichenden Nachschub sorgen wollten und Kalterherberg dazu bestens geeignet schien, scheint mir eher nachvollziehbar. 

Kalterherberg gehörte zu der fraglichen Zeit noch in den Befehlsbereich der 4. Cavalry Group und damit auch noch zum VII. US-Corps. Einigen ihrer Offiziere wurde eine ungewöhnlich deutschfeindliche Haltung nachgesagt. Vielleicht er klärt sich auch aus dieser Einstellung ihre rigorose Maßnahme. Über den tatsächlichen und ursächlichen Grund kann daher aus meiner Sicht nur noch spekuliert werden. Fakt ist jedenfalls, dass bis zum heutigen Tag auf dem Glatteis dieser Unsicherheiten keine abschließende Klärung herbeigeführt werden konnte. 

Wiederum Fakt ist, dass vom VII. USCorps und vom Hauptquartier der 1. Armee später eingeräumt wurde, dass die Evakuierung Kalterherbergs ein Fehler gewesen war, da der Ort viel weiter von der Front entfernt war als Mützenich und Monschau. 

Aber wie so oft im Leben, so war es auch hier. Ist einmal ein Vorgang, selbst wenn er sich als vollkommen überflüssig und unnütz erweist, einmal in Gang gekommen, lässt er sich durch niemand und durch nichts mehr aufhalten.

Ein amerikanischer Militärtransporter vor dem Gasthof Brandenburg in Kalterherberg